Es war um das Jahr 940 nach Christi Geburt, da hütete nicht weit von Hermannsburg in der Lüneburger Heide ein dreizehn- bis vierzehnjähriger Knabe die Rinderherde seines Vaters auf der Legde[3], als plötzlich ein prächtiger Zug von gewappneten Rittern dahergezogen kam. Der Knabe sieht mit Lust die blinkenden Helme und Harnische, die glänzenden Speere und die hohen Reitersleute an und denkt wohl in seinem Herzen: das sieht noch nach was aus! Aber plötzlich biegen die Reiter von der sich krümmenden Straße ab und kommen querfeldein auf die Legde zugeritten, wo er hütet. Das ist ihm zu arg; denn das Feld ist keine Straße, und das Feld gehört seinem Vater. Er besinnt sich kurz, geht den Rittern entgegen, stellt sich ihnen in den Weg und ruft ihnen mit dreister Stimme zu: „Kehrt um; die Straße ist euer, das Feld ist mein.“
Ein hoher Mann, auf dessen Stirn ein majestätischer Ernst thront, reitet an der Spitze des Zuges und sieht ganz verwundert den Knaben an, der es wagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Er hält sein Roß an und hat seine Freude an dem mutigen Jungen, der so kühn und furchtlos seinen Blick erwidert und nicht vom Platze weicht.
„Wer bist du, Knabe?“ „Ich bin Hermann Billings ältester Sohn und heiße auch Hermann, und dies ist meines Vaters Feld; Ihr dürft nicht darüber reiten.“
„Ich will’s aber,“ erwiderte der Ritter mit drohendem Ernst; „weiche, oder ich stoße dich nieder.“ Dabei erhob er den Speer. Der Knabe aber bleibt furchtlos stehen, sieht mit blitzendem Auge zu dem Ritter hinauf und spricht: „Recht muß Recht bleiben, und Ihr dürft nicht über das Feld reiten, Ihr reitet denn über mich weg.“
„Was weißt du von Recht, Knabe?“ — „Mein Vater ist der Billing[*],“ antwortete der Knabe; „vor einem Billing darf niemand das Recht verletzen.“
Da ruft der Ritter noch drohender: „Ist das denn Recht, Knabe, deinem Könige den Gehorsam zu versagen? Ich bin Otto, dein König.“
„Ihr wäret Otto, unser König, von dem mein Vater uns so viel erzählt? Nein, Ihr seid es nicht! König Otto schützt das Recht, und Ihr brecht das Recht: Das tut Otto nicht, sagt mein Vater.“
„Führe mich zu deinem Vater, braver Knabe,“ antwortete der König, und eine ungewöhnliche Milde und Freundlichkeit erglänzte auf seinem ernsten Angesichte.
„Dort ist meines Vaters Hof, Ihr könnt ihn sehen,“ sagte Hermann; „aber die Rinder hier hat mir mein Vater anvertraut; ich darf sie nicht verlassen, kann Euch also auch nicht führen. Seid Ihr aber Otto der König, so lenket ab vom Felde auf die Straße; denn der König schützt das Recht.“
Und der König Otto der Große gehorchte der Stimme des Knaben und lenkte sein Roß zurück auf die Straße.
Bald wird Hermann vom Felde geholt. Der König ist bei seinem Vater eingekehrt und hat zu ihm gesagt: „Billing, gib mir deinen ältesten Sohn mit; ich will ihn bei Hofe erziehen lassen; er wird ein treuer Mann werden, und ich brauche treue Männer.“ Und welcher gute Sachse konnte einem Könige wie Otto etwas abschlagen?
So sollte denn der mutige Knabe mit seinem Könige ziehen, und als Otto ihn fragte: „Hermann, willst du mit mir ziehen?“ Da antwortete der Knabe freudig: „Ich will mit dir ziehen; du bist der König, denn du schützest das Recht.“
Otto übergab den jungen Billing guten Lehrmeistern, in deren Pflege und Leitung er zu einem tugendlichen und tüchtigen Manne erwuchs. Der König hielt ihn für einen seiner nächsten Freunde und vertraute dermaßen der Klugheit, Tapferkeit und Treue seines Pfleglings, daß er, als er seine Römerfahrt antrat, ihm das eigene angestammte Herzogtum Sachsen zur Verwaltung übergab. Dieser Hermann Billing ist der Ahnherr eines blühenden Geschlechtes geworden, welches bis zum Jahre 1106 dem Sachsenlande seine Herzoge gab.
(Ferdinand Bäßler 1816–1879)
[*]: Bill ist im Sächsischen ein von der Volksgemeinde bestätigtes Gesetz. Der Mann, der darauf achten mußte, daß dieses Gesetz gehalten wurde, hieß Billing (Billung), soviel als heutzutage Schultheiß, Bürgermeister.